Die vierte Gewalt by Precht Richard David; Welzer Harald

Die vierte Gewalt by Precht Richard David; Welzer Harald

Autor:Precht, Richard David; Welzer, Harald [Precht, Richard David; Welzer, Harald]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Goldmann Verlag
veröffentlicht: 2022-10-20T00:00:00+00:00


Kapieren kommt von Kopieren

Wie der Cursor-Journalismus seine Breitenwirkung entfaltet

An der Wende zum Jahr 2000 war der Systemanalytiker Heribert Illig ein vielgefragter Mann. Da hatte sich der von seinem Job bei einer großen deutschen Bank nicht ausgelastete Hobby-Historiker an ein monumentales Projekt herangewagt. Illig wollte beweisen, dass sich das Abendland nicht im Jahr 2000 befände, sondern erst im Jahr 1703. Dazu studierte und entdeckte er zahlreiche Lücken und Ungereimtheiten der Geschichtsschreibung, von der fränkischen Baugeschichte über merowingische Königsurkunden bis zur karolingischen Astronomie. Sein Fazit: Die Zeit zwischen 614 und dem Jahr 911 hat nie existiert. Sie wurde schlichtweg erfunden aus machtpolitischem Kalkül, einzig zu dem Zweck, um den Knaben-Kaiser Otto III. in ein neues Zeitalter zu versetzen: jenes der Herrschaft Gottes, die, so lautete der Common Sense der Zeit, tausend Jahre nach Christi Geburt anbrechen würde.

Die spannendste Frage an Illigs »erfundenem Mittelalter« lautete nicht, wie plausibel das Motiv ist. Die spannendste Frage ist die, ob es logistisch möglich war, eine solche Zeitfälschung durchzusetzen. Zogen sämtliche Mönche, die Hauptschriftkundigen, da mit und veränderten mit sofortiger Wirkung alle Datierungen? Die Zeitgeschichte meinte es nicht günstig mit Illig, sein kunstvolles Gebäude wurde von den Experten der Zunft mit Kanonenkugeln beschossen und stürzte, halbfertig wie es war, ein.

Die Logistikfrage aber bleibt als großes Rätsel zurück. Wäre eine solche Zeitfälschung, wenn sie denn je beauftragt worden wäre, damals möglich gewesen? Für das Mittelalter mit den wenigen Wissenden, der überschaubaren Zahl der Schriftkundigen in den Kirchen und Klöstern lässt sie sich möglicherweise sanft bejahen. Wer verstieß damals schon gegen die Regeln der Kirchenoberen und wagte es, aus der Reihe zu tanzen? Für unsere heutige Zeit hingegen wäre nicht nur eine Zeitfälschung, sondern jede Art verordneter Lüge großen Stils dauerhaft unmöglich. Konformität, und das ist der Unterschied, kann in den liberalen Gesellschaften des Westens im 21. Jahrhundert nicht flächendeckend verordnet werden. Gibt es sie trotzdem, so müssen andere Mechanismen greifen, die konformes Verhalten, wie jenes des Cursor-Journalismus, plausibel erklären. Und tatsächlich wissen die Sozialpsychologen darüber ausgesprochen viel. So hat die Sozialpsychologie der Intergruppenbeziehung, für die besonders der britische Sozialpsychologe Henri Tajfel steht, schon vor einem halben Jahrhundert auf der Grundlage zahlreicher Experimente nachgewiesen, dass bereits völlig willkürlich konstruierte Zugehörigkeiten zu Gruppen das Handeln der Einzelnen in konkreten Entscheidungssituationen bestimmen.[125]

Tajfel zeigte Versuchspersonen unabhängig voneinander Bilder abstrakter Maler und bat sie zu sagen, welche ihnen am besten gefielen. Anschließend wurde den Probanden (völlig unabhängig von den geäußerten Präferenzen) mitgeteilt, dass sie entweder ganz ausgesprochene Klee- oder aber Kandinsky-Liebhaber seien. In einem zweiten Teil des Experiments bekamen sie nun die Aufgabe, Gruppen von anderen Versuchspersonen nach einem Verteilungsschlüssel Geldbeträge zuzuweisen: nämlich Klee-Liebhabern, Kandinsky-Liebhabern und Mitgliedern einer gemischten Gruppe. Obwohl die Versuchspersonen untereinander keinerlei Kontakt hatten und sich den jeweiligen Gruppen nur abstrakt zuordnen konnten, häuften sich die Geldbeträge jeweils auf dem Konto der Gruppe, der die Versuchsperson sich zugehörig fühlte.

Dieser Befund zeigt sich sogar dann, wenn die Gruppen nicht nach vermeintlichen ästhetischen Vorlieben, sondern nach Münzwurf eingeteilt werden – woraus man den einfachen Schluss ziehen kann, dass Menschen schon dann als Gruppenmitglieder handeln, wenn sie sich als Mitglieder von Gruppen wahrnehmen.



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